Er hat sich angekündigt, der Regen. Wie jeden Tag.

Seit ich in Nicaragua angekommen bin, regnet es regelmäßig, heftig und reinigend. Und das gilt wirklich für alle Orte die ich in diesem wunderbaren und gleichzeitig anstrengenden, ab und zu ziemlich hässlichen und meistens dreckigen Land besuche.

Es ist auch notwendig das es regnet, denn im nicaraguanischen Winter in dem ich mich gerade befinde, werden die natürlichen Wasserreserven des Landes aufgefüllt. Ein Winter der mehr unserem höchsten Hochsommer gleicht, mich erbarmungslos schwitzen lässt und mir gleichzeitig den von zu Hause so bekannten Duft nach Regen in die Nase treibt.

Wenn die Wassertropfen auf die aufgeheizte Erde treffen entwickelt sich ein Geruch, den ich mit Sommer und Gewitter in Deutschland verbinde und der mich jedes mal schmunzeln lässt – selbst wenn ich es nicht schnell genug geschafft habe ein Dach zum Unterstellen zu finden und deshalb pitschnass vor mich hin triefe.

Starkregen auf der Straße

Leben

Jetzt gerade prasselt er in einer unvorstellbaren Lautstärke in Tipitapa auf das Wellblechdach meines kleinen Zimmers und veranstaltet ein Konzert das den Kopf komplett ausfüllt und für keinerlei andere Gedanken als dem Jetzt und Hier Raum lässt. Mein Zimmer, das weder Fensterscheiben noch eine anständige Tür hat und in dem ein mit einer weniger als dünnen Schaumstoffmatratze ausgestattetes Eisenbettgestell steht, in das ich mich gleich hundemüde legen werde. Seit 4 Tagen bin ich jetzt schon hier und es ist ziemlich toll.

Was nicht so toll ist, sind die 37 Mückenstiche an meinen Beinen oder das Huhn, das schon mehrmals vor mein Bett gekackt hat oder die beiden echt großen Kakerlaken die in der Ecke leben, in dem der Gartenschlauch hängt, der als Dusche dient und aus dem nur bei jedem zweiten Versuch Wasser rauskommt. Wenn die beiden wenigstens in ihrer Ecke bleiben würden… Aber nein, mehr als einmal pirschen sie sich in meine Nähe und als ich an einem Morgen um 4.30 Uhr die Augen aufschlage, weil der Hahn einen Meter von mir entfernt anfängt zu krähen, sitzt eine der beiden gefährlich nahe an meinem Kopf an der Wand. Ich. bin. wach. Innerhalb einer Millisekunde. Als würden Hahn und Hitze nicht schon ausreichen um mich sofort aufzuwecken.

Mein Zimmer in Tipitapa

Ich erlebe meine bisher intensivste Erfahrung auf diesem Ausflug um die Welt. Das ist das was mir klar wird, während ich alleine auf meinem Bett sitze, der Regen langsam nachlässt und die feuchte, heiße Luft sofort wieder den Raum ausfüllt. Ich schnappe mir mein Notizbuch und fange an zu schreiben. Bisher habe ich noch nie soviel und so lange in meinen fast wichtigsten Reisebegleiter gekritzelt…

Mir persönlich wird hier eine Gastfreundschaft entgegengebracht und gleichzeitig ein politisches Engagement in allen sozialen Bereichen vor Augen geführt, das ich jeden Abend nur schwer einschlafen kann, tief beeindruckt von solch einer Stärke und den Dingen die ich über Tag mitbekomme.

Aus keinem Grund der Welt, hätte mich diese Familie bei sich aufnehmen müssen. Ich habe lediglich einem Gewerkschaftskollegen eine Email geschickt und gefragt ob wir uns mal treffen und austauschen können. Das mache ich in den meisten Ländern durch die mich meine Route führt, denn ich finde es gibt kaum eine bessere Art einen tieferen Einblick in die Kultur und Lebensrealitäten zu bekommen, als mit den arbeitenden Menschen zu sprechen.

Eine Freundin aus Deutschland hat ihm bereits angekündigt, dass ich mich melde und so dauert es keine 10 Minuten bis ich eine Antwort auf meine Frage bekomme. Natürlich können wir uns treffen. Und nachdem wir uns wie verabredet an einer Tankstelle in Managua gefunden und uns eine gute Stunde beschnuppert haben, fahren wir zu ihm nach Hause. Ein zu Hause in das ich zwei Tage später aufgrund seiner Einladung als Gast zurück kehre, um so die Möglichkeit zu haben sowohl Lebens- als auch Arbeitsrealität in Nicaragua selbst für kurze Zeit miterleben zu dürfen.

Ein Teil der Familie Bobadilla-Treminio

Zu Hause ist in diesem Fall Tipitapa. Eine Stadt die nicht als Touristenhochburg bekannt, sondern dreckig, hässlich und heiß ist und sich regelmäßig mit Managua um den ersten Platz als gefährlichste Stadt Nicaraguas streitet. Der Unterschied zwischen den beiden besteht nur darin, dass in Managua mehr Schusswaffen benutzt werden, in Tipitapa die gute alte Machete.

Die Menschen und zum Großteil Frauen Tipitapa´s arbeiten, sofern sie denn überhaupt eine Arbeit haben, in den nahegelegenen Maquilas bzw. Zona Francas (Freihandelszonen). In den Maquilas, deren Gründungen seit Anfang der Neunziger Jahre als „Maßnahme zur Armutsbekämpfung“ gefördert wurden, werden hauptsächlich steuerfreie Textilien für den Export produziert. Der gezahlte Monatslohn von rund 180 Dollar reicht aber für nicht viel mehr als das Überleben der ArbeiterInnen und so wird Armut hier nicht bekämpft, sondern nur eine krasse Form der Ausbeutung durch billige Arbeitskraft betrieben, die zusammen mit dem Fehlen von Arbeitsrecht und der Unterdrückung von Gewerkschaften noch krasser wird. Wer sich zum Beispiel einmal öffentlich als GewerkschafterIn zu erkennen gibt, landet inklusive seiner gesamten Familienmitglieder auf einer schwarzen Liste, die die Unternehmen ständig untereinander austauschen und findet somit dann in keiner der anderen Fabriken eine Arbeitsstelle. Deshalb ist es so schwer bis unmöglich Strukturen aufzubauen die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen bringen können. Die Arbeitszeiten die hier vorherrschen, der Druck, der Akkord und wie er festgesetzt wird und dass Schwangerschaft oder ein krankes Kind zu Hause, hier sofortige Kündigungsgründe sind, zeigen die Auswirkungen des weltweiten Kapitalismus und wie es seinen VerliererInnen ergeht, deutlich auf.

Zona Franca – Treffen im Gewerkschaftsbüro

Ich habe aber auch die Möglichkeit eine der wenigen Zona Francas zu besuchen in der es durch jahrzehntelange Auseinandersetzungen gelungen ist eine Gewerkschaft zu etablieren die als Verhandlungspartner durch die Unternehmensleitung anerkannt wird und es somit geschafft hat, Rechte für die 3.000 ArbeiterInnen zu erstreiten. Neben einem Betriebsrundgang war es sogar möglich, im Gewerkschaftsbüro die jeweiligen GewerkschaftsvertreterInnen der einzelnen Abteilungen während ihrer Arbeitszeit zu treffen und mit ihnen zu sprechen, was für mich etwas ganz Besonderes war und ist und mich immer noch staunend nachdenken lässt. Ich bin zu einem großen Teil durch die internationale Arbeit meiner Gewerkschaft politisiert worden und deshalb eine Verfechterin davon mehr gemeinsam zu lernen und sich mehr international auszutauschen und die KollegInnen hier berichten mir, dass es ihnen genauso geht. Wo sollte das auch besser gehen als vor Ort?

Eine in ihrer Ganzheit prägende Erfahrung von Leben und Arbeiten in einem der ärmsten Länder der Welt, für die ich der ganzen Familie dankbar bin und wie ich es in der Fernabwesenheitsnotiz von Costa Rica schon geschrieben habe, Menschen für die ich gar nicht genug Respekt aufbringen kann.

Natalie – die Kleinste der Familie, die ich sofort ins Herz schließe. Wir hecken zusammen einigen Quatsch aus. An meinem letzten Abend verrät mir ihre Mama, dass sie sich die Haare so wie ich schneiden wollte und es selbst versucht hat. Ist schief gegangen…

Reisen

Insgesamt verbringe ich 5 Wochen in Nicaragua. 5 Wochen in denen die Zeit in Tipitapa sicherlich die beste war und ich wirklich ein Stück von meinem Herzen habe liegen lassen. Aber eben auch Wochen in denen ich einmal alles von Norden nach Süden (mit den von mir mittlerweile innig geliebten Chickenbussen) bis auf die Karibik im Osten bereist habe. Wochen voll von Urwald, Tieren, Vulkanen, Städten im Kolonialstil und zum Großteil wunderbaren Menschen.

Nur zum Großteil wunderbare Menschen, weil es eben auch echte Idioten und Geschlechterverhältnisse auf der Welt gibt, die eigentlich zum Wegrennen sind und nicht einladen ein solches Land zu bereisen. Und hier in Nicaragua sind diese Idioten in der Hauptsache irgendwelche Typen die auf der Straße abhängen und jede Frau die an ihnen vorbei geht sexuell belästigen. Entweder mit einem Schnalzgeräusch, das dreimal hintereinander gemacht wird, oder mit Pfiffen oder mit Worten oder sogar mit Antatschen. Ätzend. Nervig. Unmöglich. Kein einziger Gang durch die eigentlich hübsche Stadt Granada mit ihren tausend bunten Häusern im Kolonialstil, bei dem mir oder uns das nicht passiert. Eine Gruppe von Männern auf der Straße und man kann runterzählen: 3, 2, 1 … jetzt werde ich dumm angemacht, sexualisiert und als Objekt betrachtet. Das ist verdammt anstrengend und was dann noch anstrengender ist, ist ein Mann der dir allen Ernstes versucht zu erzählen, dass das eben ein Teil der Kultur hier und nicht böse gemeint ist. Machismo als unumstößlicher Teil der Kultur. Wie bitte? Dann kannst du den Teil deiner Kultur getrost für dich behalten, du Depp. Die Frauen mit denen ich hier darüber spreche und die ich frage wie sie das nur jeden Tag aushalten können, reagieren unterschiedlich. Von resigniert bis fuchsteufelswild und entschlossen diese Geschlechterverhältnisse und -rollen aufzubrechen. Nicht leicht, wenn von vorne herein auf allen Erziehungsebenen, Frauen oder Mädchen als weniger wert als Männer oder Jungs dargestellt werden und ihnen das tagtäglich erzählt wird bzw. sie es zu spüren bekommen. Was für ein himmelschreiender Unsinn. Und natürlich sind nicht alle Männer hier so, ich lerne auch wirklich nette und aufgeklärte kennen. Das ändert allerdings nichts daran dass man den Machismo in seiner Gesamtheit, der ja nicht nur hier in Nicaragua sondern auch in anderen Ländern Süd- und Zentralamerikas vorhanden ist, verurteilen und bekämpfen muss. Übrigens auch in Deutschland.

Zentral

Trotz dummer Anmache, kann man Granada auch wirklich etwas abgewinnen. Sie ist eine der schöneren Städte Nicaraguas und ich komme nach meiner ersten Woche Spanischkurs, noch einmal zurück um Mitschülerinnen zu treffen und die idyllisch am Nicaraguasee gelegene Stadt weiter zu erkunden. Die farbenfrohen Häuserwände, die in allen Varianten gefliesten Bürgersteige und der Markt mit seinen tausend Ständen an denen alles Mögliche verkauft wird und in dem man sich im größten Gewusel verlieren kann, das sind schon Pluspunkte. Außerdem mache ich hier einen Kochkurs der jetzt schon dafür sorgt, dass ich mich freue „Indio Viejo“ in Deutschland nach zu kochen.

Fischverkäuferinnen morgens auf dem Markt in Granada

Ganz in der Nähe liegt der Vulkansee „Laguna Apoyo“ der eingefasst von immergrünen Bergen auch als Filmset für Jurassicpark dienen könnte und für echte Entspannung sorgt. Morgens werden wir von der aufgehenden Sonne und den Rufen der Affen geweckt, gehen im angenehmen Süßwasser schwimmen und atmen die Ruhe und Abgeschiedenheit dieses Naturparks ein um dann abends mit Sonnenuntergang müde vom Nichtstun und in Ermangelung einer Bar im Wellness-Vegan-Ressort ins Bett zu fallen.

Laguna de Apoyo

Norden

Die Gegend um Matagalpa, Estelí und Somoto ganz weit im Norden an der Grenze zum Nachbarland Honduras mit seiner eindrucksvollen Landschaft rund um einen Canyon, hat es mir angetan. Ich treffe dort nicht nur eine alte Bekannte mit der ich schon mal ein Wochenende vor 3 Jahren verbracht habe, sondern nehme auch an einer Tour durch den Canyon teil, die mich physisch und psychisch mehr als fordert und eine Wagenladung Endorphin freisetzt (10 Meter…). Rückblickend würde ich die Tour auch kein zweites Mal machen. Aber ich würde definitiv wieder nach Somoto bzw. zu meiner Unterkunft dort und einer weiteren unglaublich freundlichen Familie zurückkehren. Direkt an der berühmten Panamericana gelegen, weit und breit kein anderes Haus, spazieren wir in Begleitung von Millionen von Glühwürmchen die versuchen den Sternenhimmel zu übertreffen, nachts über eine der bekanntesten Straßen der Welt und quasseln uns die Ohren wund. Außerdem bin ich hier auf meinem ersten Esel geritten… war lustig.

Panamericana im äußersten Norden Nicaraguas

Westen

Leon ist für mich die schönste Stadt Nicaraguas. Sie vereint Vergangenheit und Zukunft und ab der ersten Minute bin ich ihrem Charme erlegen. Zu Zeiten der Revolution war sie ein Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, noch heute ist sie intellektuelles Zentrum des Landes und ihren BewohnerInnen ist das bewusst. Das spürt man überall, es ist an fast jede Hauswand gesprüht und Leon feiert seinen Anteil an der Kultur des Landes und der Revolution durch die Sandinisten (FSLN) mit einem wirklich einzigartigen Museum zu selbiger, bei dessen Besichtigung man eine mehr als lebhafte Privattour durch einen Veteranen der nicaraguanischen Revolution bekommt. 1979 wurde die Somoza-Diktatur durch die Sandinisten gestürzt. Ca. 30.000 Menschen verloren bis zum Sturz des Diktators ihr Leben, Hunderttausende waren auf der Flucht und das nach Jahrzehnten der Schreckensherrschaft und Ausbeutung des gesamten Landes durch die Somoza-Familie. Weitere 60.000 starben in der Zeit bis 1990 als die sogenannten Contras von den USA finanziert aus Honduras heraus versuchten die neue Regierung zu stürzen und einen Bürgerkrieg initiieren wollten. Geschichte die bis heute nicht nur Geschichte sondern auch Gegenwart ist. Spannend und mit den Händen greifbar in Leon.

Im Revolutionsmuseum

Gleich gegenüber des Revolutionsmuseums steht die größte Kathedrale Zentralamerikas, die man besteigen kann und muss um dann barfuß auf einem der schönsten Dächer der Welt rumzulaufen. Die Kuppeln der weißen Kathedrale und die Blickwinkel um von dort oben die Stadt zu beobachten sind phänomenal.

Barfuß auf dem Dach der Kathedrale

Küste

Und wieder einmal ist es die vergleichsweise rauhe Pazifikküste die mich packt. Ich zelte 3 Tage in der Region in der das meiste des für den Exportschlager Flor de Caña (Rum) benötigten Zuckerrohrs angebaut wird und genieße es wie der Regen hier für eine Geräuschkulisse sorgt, die mich gut ein- und durchschlafen lässt. Ich beobachte den ganzen Tag SurferInnen und freue mich über die Anblicke und Sonnenuntergänge die sich mir bei meinen Spaziergängen bieten.

Pazifikküste

Vulkane

Augustin: „Willst du die Regeln brechen?“

Ich: „Ich? Klar! Was machen wir?“

Augustin: „Hörst du diese Gruppe Brüllaffen? Wir gehen in den Wald und suchen die!“

Ich: „Echt? OK, cool! Wo geht’s lang?“

Bleiben Sie auf dem Weg!

15 Minuten später stehe ich verdreckt, mit Schramme am Bein und offenem Mund mit meinem Guide Augustin, den ich durch eine glückliche Fügung für die Tour ganz für mich alleine habe, im Nebelwald der auf dem Vulkan Mombacho wächst, unter einer Gruppe von 10 Brüllaffen, die sich über unsere Köpfe hinwegschwingen, laut brüllen und bin fasziniert von dieser Szenerie, die ich so wohl nur einmal in meinem Leben mitmachen werde. WOW.

Nicaragua ist als das Land der Vulkane bekannt und nicht nur mein eben beschriebener Wanderausflug um den Krater des Mombacho, sondern auch der nächtliche Trip zu seinem Nachbarn Masaya der ziemlich aktiv ist und fast wie Mordor aus Herr der Ringe wirkt, hinterlässt nachhaltig Eindruck bei mir.

Am Krater des Vulkan Masaya

Und Jetzt?

Es geht nach San Francisco und dann nach Vietnam.

Ich freue mich darauf, sogar so richtig. Aber ich bin auch ein bißchen wehmütig, denn gerade fange ich an die Sprache ordentlich zu sprechen, habe eine Ahnung davon wie ich mich ganz gut durch den Kontinent bewegen kann, ein wenig das Gefühl richtig eintauchen zu können und ein paar Tricks drauf… und dann geht es weiter in eine andere Welt.

Aber es ist schon das Richtige. Ich kann und werde wieder kommen.

 

Nicaragua in Bewegtbildern und zwei Teilen: