Hier stehe ich nun am Flughafen Hanoi im Norden von Vietnam um meinen Visumsantrag genehmigt zu bekommen und mache zum ersten und nicht letzten Mal Bekanntschaft mit der Bürokratie bzw. den Bediensteten des Staatsapparates der sozialistischen Republik. Die anderen Begegnungen mit Staatsvertretern enden zu Einhundertprozent in Bestechungszahlungen, aber das kommt nur dreimal vor. Auch wenn der deutsche Pass einer der „mächtigsten“ Pässe ist, mit dem man weltweit in den meisten Ländern einfach so einreisen kann (Wir können uns deshalb, wie in so vielen anderen Dingen echt glücklich schätzen!), gilt das nicht für Vietnam. Zumindest nicht wenn man länger als 2 Wochen bleiben will und das ist schließlich die Idee, bis ich mich aufmache um nach Thailand zu reisen. Also heißt es Einreihen und Abwarten bis der extrem mürrische Grenzbeamte den vorher ausgedruckten und ausgefüllten Antrag samt Passbild entgegennimmt und dich dann nonverbal anweist ihm gefälligst sofort aus den Augen zu gehen, bis du das nächste mal aufgerufen wirst.

OK… Herzlich willkommen in Vietnam.

Ich bin hocherfreut dich kennen zu lernen und was für ein sympathischer erster Eindruck!

Da bin ich ja richtig glücklich, dass ich meinen Reisepass in Südkorea auf dem Flughafen doch noch wiedergefunden habe, nachdem ich ihn auf der Toilette habe liegen lassen. Ja. Diese Dummheit ist mir wirklich passiert und es ist mir erst zwei Stunden später nach einem Nickerchen aufgefallen. Aber das Glück war diesmal tatsächlich mit den Dummen, wie man so schön sagt. Jemand hat meinen Pass an einem Infoschalter abgegeben und ich muss deshalb nicht für immer und ewig im Transitbereich des Flughafen Seoul leben oder meine Reise abbrechen… Ich durfte weiterreisen nach Hanoi und werde nach diesem echten Schock, wie bereits geschrieben äußerst herzlich empfangen.

Aber ganz so mürrisch bleibt oder ist es nicht allzu oft. Zum Glück. Auch wenn es ruppiger im persönlichen Umgang zugeht, als ich das aus den letzten herzlichen Monaten in Zentralamerika gewohnt bin. Die Kommunikation ist insgesamt nicht einfach und ich habe Schwierigkeiten, aufgrund der massiven Sprachbarriere einen Draht zu den VietnamesInnen zu bekommen. Die meisten haben nicht die Möglichkeit Englisch in der Schule so zu lernen, dass sie es auch anwenden können und selbst wenn sie es eigentlich können, trauen sie sich nicht und sind zu schüchtern. Unabhängig von vielen die im Tourismusbereich arbeiten und denken sie sind ExpertInnen, aber tatsächlich nicht zu verstehen sind und stur ihr Programm durchziehen ohne die Reisenden mitzunehmen.

Mein persönliches Problem ist es, dass ich mir die Länder bisher immer über die Menschen und Kommunikation mit ihnen erschlossen habe und es jetzt gerade einmal hinbekomme, richtig schlecht ausgesprochen „Hallo und Danke“ zu sagen. Mehr aber auch nicht. Das wurmt mich gewaltig und ihr merkt schon nach den ersten Absätzen: Vietnam und ich… schwierig. Das ist es was ich sofort nach meiner Ankunft spüre, um dann auch noch von der Lautstärke und dem immer vorhanden Geräuschpegel hier überrollt zu werden. Uff.

In den ersten Tagen verkrieche ich mich in der Hauptsache in meinem Hotelzimmer, um dem unfassbaren Lärm Hanois zu entgehen oder ihn zumindest ein wenig zu dämpfen. Leise ist es hier für mich, besonders in den Städten, aber auch auf dem Land fast den gesamten Monat lang nicht. Wenn ich ganz scharf nachdenke kann ich mich an genau zwei stille Momente erinnern. Und eigentlich mag ich Stille.

Aber um eines bei allen Schwierigkeiten die ich habe, gleich mal festzustellen:

Dieses Land ist und seine BewohnerInnen sind, nach dem zweiten mal Hinschauen und Hinhören, einfach nur schön. Und ich bin froh, dass ich nicht gleich aufgegeben und mich vom Acker gemacht habe, wie ich es eigentlich nach ein paar Tagen vorhatte.

Was hätte ich alles verpasst, weshalb ich jetzt froh bin geblieben zu sein:

Das beste Essen der Welt. Zumindest ganz weit oben auf meiner persönlichen Hitliste.

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Die Wanderung im strömenden Regen, durch die
wunderschönen Reisterrassen der Umgebung im Norden rund um Sapa.

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Die Abenteuerautofahrt an die chinesische Grenze, die mein Guide kotzend mit dem Kopf in einer Tüte verbracht hat, um mir dann einen der wuseligsten und authentischsten Märkte auf dem ich je war und eine atemberaubende Landschaft zu zeigen.

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Die Bootsfahrt über drei Tage in der Halong Bay, die traumhaft ist und deshalb auch über den echt anstrengenden (Kaffeefahrt-)Teil dieser Tour hinweggetröstet hat.

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Unzählige historische Stätten in und um die alte Königsstadt Hue, die eine mystische Stimmung ausstrahlen und mit ihrem Alter und ihrer Geschichte was zu bieten haben.

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Eine weitere Wanderung in Zentralvietnam, bei der wir vor Sonnenaufgang einen tausende Jahre alten Hindutempel erreichen und man sich ein bißchen wie Indiana Jones beim Entdecken einer verschollenen Stadt vorkommt.

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Abends durch die Lampion-Hauptstadt Hoi An zu spazieren, selbst wenn sie aufgrund ihrer Schönheit ziemlich überlaufen ist.

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Den größten Spaß und Nervenkitzel überhaupt, beim Mitfahren durch die Städte auf den Motorbikes der Einheimischen, besonders in der Rushhour.

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Zwei Tage auf einer Honda durch das Mekong Delta mit einem super Menschen zu brausen und so neben den Lebensweisen in Nord- und Zentralvietnam, auch die im Süden mit und im Wasser kennen zu lernen.

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Ho-Chi-Minh-City (Saigon) zu erleben. Mehr kann ich dazu gar nicht schreiben. Man muss diese Stadt und ihre Umgebung und ihre Geschichte und ihre Museen wirklich selbst erleben.

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Das alles wäre mir entgangen. Und ich würde mir in den Hintern beißen, wenn ich es nicht erlebt hätte.

 

Geschichte

Ich werde es nicht im Ansatz schaffen, die ganzen Zusammenhänge in einer ausreichenden Länge darzustellen ohne eine Abhandlung darüber zu schreiben, aber ich würde gerne noch versuchen euch zu erzählen, weshalb ich denn unbedingt hierher wollte.

Einer der Hauptgründe ist die Vergangenheit Vietnams. Die jahrhundertealte Besatzungs-, Kriegs- und Leidgeschichte. China, Frankreich, USA. Ein Wahnsinn, wenn man sich mal näher damit beschäftigt. Ich interessiere mich sehr für Geschichte, vor allem für die neuere der Länder die ich bereise. Denn ich finde die kollektive Vergangenheit macht immer einen Großteil dessen aus, wie eine Gesellschaft in der Gegenwart tickt.

Die kommunistische Führung Vietnams hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch eine pädagogisch fragwürdige Herangehensweise und leider auch dem Ausblenden der eigenen Fehler und Gräueltaten, den Teil der Landesgeschichte rund um den Indochinakrieg und den Vietnamkrieg nicht vergessen werden zu lassen. Das umfasst ungefähr die Zeit von 1946 bis 1975, wobei die Auswirkungen bis heute eine Rolle spielen.

Die offizielle Aufarbeitung an sich ist gut, aber es geschieht meiner Meinung nach zu einseitig und propagandistisch und teilweise ist es sogar zu viel zum Aushalten, wenn man völlig unvorbereitet auf den Bildungsanspruch der Regierung trifft. Denn dort wo ich zu offiziellen Gedenkstätten oder Museen aufbreche, wird hemmungslos die Bildkeule geschwungen und zum Beispiel im Kriegsopfermuseum in Ho-Chi-Minh-City kommt man nicht an einem ganzen Stockwerk voller Bilder von verstümmelten (Kinder-)Leichen und Opfern durch Agent Orange vorbei. Agent Orange ist das verunreinigte Entlaubungsmittel, das das US Militär neben anderen Chemikalien jahrelang und in nicht vorstellbarem Ausmaß auf dieses Land und seine Menschen ausgekippt hat. Über 80 Millionen Liter. Bis in die 4. Generation (also heute!) werden hier Kinder mit Behinderungen geboren, auch die der damals in Vietnam stationierten US-Soldaten. Wenn ich jetzt über dieses Stockwerk schreibe, läuft mir wieder ein Schauder über den Rücken. Ich habe mehr als eine Person gesehen, die den Besuch abgebrochen hat und deshalb nicht zum „guten“ Teil der Ausstellung vorgedrungen ist, um wenigstens versuchen zu können mit so etwas wie Hoffnung aus diesem Gebäude zu gehen. Schade.

Ein kleiner Junge läuft durch ein von Agent Orange verseuchtes Gebiet (Foto WarRemnantsMuseum HCMC)

Der Indochinakrieg wurde zwischen der alten Kolonialmacht Frankreich und Vietnam um dessen Unabhängigkeit geführt und endete in der Teilung ins kommunistische Nord- und antikommunistische Südvietnam. Allerdings war das kein wirkliches Ende, denn sofort daran anschließend brach der Vietnamkrieg zwischen den USA (die das antikommunistische Südvietnam „vertraten“ und die Ausbreitung des Kommunismus verhindern wollten) und Nordvietnam aus, der über 20 Jahre dauerte und auch der zweite Indochinakrieg genannt wird, weil er eben nicht ausschließlich in Vietnam stattfand, sondern auch in den angrenzenden Ländern Laos und Kambodscha.

Der Vietnamkrieg war der erste der das Ausmaß an Tragödie und Schrecken die ein Krieg mit sich bringt fast Live in die Zeitungen, Fernseher, Büros und somit auch Wohnzimmer der Menschen gebracht hat. Es war der erste Krieg in dem es Echtzeitberichterstattung gab und in dem noch keine ethischen Regeln festgelegt waren, was gesendet und gedruckt werden darf und was nicht. Und wie unglaublich schlimm dieser Krieg war, zeigen alleine schon die Zahlen.

3.5 Millionen VietnamesInnen wurden getötet, weitere 2 Millionen verstümmelt. Über 10 Millionen – fast die Hälfte der Einwohner Südvietnams – wurde durch Bomben oder Gewalt aus ihren Dörfern vertrieben. 1.3 Millionen Kinder wurden Waisen. Alle Städte Nordvietnams wurden bombardiert, die Hälfte in Schutt und Asche gelegt. 3.000 Schulen, 250 Krankenhäuser, 1.500 Pflege- und Entbindungsstationen, 450 Kirchen, 500 Pagoden und Tempel wurden zerstört. Alle Industrieanlagen wurden teilweise vernichtet, Eisenbahnlinien und Häfen beschädigt, die meisten Brücken und Bahnhöfe und eintausend wichtige Deichabschnitte zerbombt. Hunderttausende Hektar Reisfelder und andere Anbauflächen unbrauchbar gemacht. Zehntausende Wasserbüffel getötet, eines der wichtigsten Arbeitsmittel der Landwirtschaft. Laos und Kambodscha, die Nebenschauplätze des Krieges, hatten ebenfalls Hunderttausende Opfer zu beklagen. Es gab eine halbe Million Prostituierte , davon 50.000 in Saigon, das als größtes Puff der Welt galt. Zudem gab es 500.000 Drogenabhängige, 300.000 Geschlechtskranke, 1 Millionen Tuberkulose- und 10.000 Leprakranke sowie Millionen von Agent Orange Opfern. Auf amerikanischer Seite starben ca. 58.000 US-Soldaten und 5.300 ihrer Verbündeten.

Zusammengerechnete Bilanz des jahrzehntelangen Vietnamkriegs. Unfassbar.

Häuserruine in My Lai (Son My) – Offizielle Gedenkstätte des US-Massakers

Mich hat der Besuch der Gedenkstätte von My Lai ganz besonders berührt. My Lai war ein Dorf in Zentralvietnam, in dem eine Einheit des US Militärs ein Massaker an über 500 Frauen, Kindern und alten Menschen verübte und danach als Operation gegen den Vietcong (Name für den Feind) vertuschen wollte, obwohl kein einziger gegnerischer Kämpfer in dem Dorf war. Ich werde jetzt nicht jede einzelne Gräueltat aufschreiben, das kann man alles selbst nachlesen, sondern darauf eingehen, dass es unter anderem dieses Kriegsverbrechen und sein Bekanntwerden war, das die Friedensbewegungen weltweit aber vor allem in den USA unterstützt und zu Massenbewegungen gemacht hat. Obwohl es über ein Jahr dauerte bis der investigative Journalist Seymour Hersh seine Reportage mit den verstörenden Bildern von Ron Haeberle in den großen Medienverlagen veröffentlichen konnte. 1970 erhielt er den Pulitzerpreis für seine Arbeit.

Es war gar nicht so leicht, von Hoi An aus dorthin zu kommen und bei mehr als einer Agentur hat man mich gefragt warum ich denn überhaupt dahin wollen würde und ob ich denn Journalistin wäre, weil eigentlich nur die dahin wollen. Als ich dann aber doch dort ankomme und nach dem Besuch der offiziellen Gedenkstätte an die Originalplätze der Aufnahmen von 1968 laufe, bin ich tief bewegt. Heute in einem sattgrünen Reisfeld zu stehen, aber die Bilder des ganzen Schreckens mit leichtem Gelbstich im Kopf zu haben… das lässt mich schwer schlucken.

Ich glaube wir sind uns alle einig: Krieg ist ein Arschloch.

Bis auf die Befriedigung von Territorial-, Macht- und somit Wirtschaftsinteressen einiger Weniger, aber damit einhergehendem Leid und Tod Abertausender, hat er nichts zu bieten.

Und wer Krieg fördert, finanziert, unterstützt, oder nicht versucht den Wahnsinn zu beenden, ist meiner Meinung nach auch ein Arschloch.

Kein sehr charmantes Ende. Aber es stimmt.

Denn Kriege sind menschengemacht und deshalb auch verhinderbar. Man muss die Arschlöcher identifizieren und dann kollektiv (friedlich!) stoppen.

Wenn das nur so einfach wäre, wie es sich schreibt.